„Ich bin solidarisch mit den Menschen in Frankreich. In den letzten Tagen demonstrieren dort Millionen Menschen gegen die Rentenreform der Regierung Macron und deren Politik der Ignoranz und des Sozialabbaus. Die Gewerkschaften stehen an der Spitze der Bewegung. In Meinungsumfragen fordern zwei Drittel der Franzosen und 90 Prozent der Arbeitnehmer_innen die Rücknahme des Gesetzes zur Anhebung des Rentenalters auf 64 Jahre. Die Medien in Deutschland berichten darüber nur am Rande. Offensichtlich bestehen Befürchtungen, dass der lang anhaltende Widerstand in Frankreich, der Teile des öffentlichen Lebens lahmlegt, auf die Bundesrepublik ausstrahlen könnte. Gut, dass die Gewerkschaften verd.i und EVL am Montag zum Warnstreik aufrufen. Nötig wäre auch hier bei uns ein flächendeckender und langanhaltender Protest gegen die Verteilung der Kosten der Krise auf die Arbeiter_innen, Sozialabbau, den Ausverkauf der Daseinsvorsorge, die Zerstörung des öffentlich getragenen Gesundheitswesen, den Abbau der Arbeitsrechte, die inflationsverstärkende Sanktionspolitik und die Milliardenschwere Militarisierung samt Waffenlieferungen an die Ukraine. In einer Weltwirtschaftskrise wäre richtig den Reichtum von Oben nach Unten zu verteilen, die Sozialsysteme auszubauen, die Kaufkraft der Arbeiterklasse zu stärken und die Daseinsvorsorge zu Vergesellschaften. Dafür müssen die Menschen allerdings massiven Protest auf die Straße tragen, wie es gerade in Frankreich geschieht“, erklärt Mehmet Yildiz.
Hintergrund der Proteste in Frankreich
Präsident Emmanuel Macron zwang der Nationalversammlung (ähnlich dem Bundestag) durch ein Verfahren gemäß Artikel 49-3 auf, das Rentenalter ohne die normale Befassung des Parlaments, die für Gesetze üblich ist, zu erhöhen. Der Artikel 49-3 sieht ein solches Verfahren als Ausnahme vor. Linke und Menschenrechtler_innen kritisieren das seit langem, da es faktisch die Demokratie aushebelt. In dem Artikel ist geregelt, dass die Opposition in einem solchen Fall im Senat (ähnlich dem Bundesrat) einen Misstrauensantrag gegen die Regierung stellen kann. Ein solcher gegen die Ministerpräsidentin ist dort um neun Stimmen gescheitert. Lediglich ein Teil der Rechten, die dort im Gegensatz zur Nationalversammlung eine klare Mehrheit haben, hat die Spitze der Regierung gerettet.
Die Wut der Menschen ist nun sehr groß. Millionen von Franzosen demonstrieren, die Streiks weiten sich aus. Macron diffamiert die Proteste und sagte in eine Fernsehansprache er werde seine Vorhaben auch ohne gesellschaftliche Mehrheiten umsetzen. Auf der Straße lässt er die Polizei zum Teil mit brutaler Gewalt gegen die Demonstrierenden vorgehen.
Emmanuel Macron wurde bei den letzten Präsidentschaftswahlen lediglich wiedergewählt, weil die Mehrheit der Franzosen mit seiner Wahl im zweiten Gang die Wahl von Marine Le Pen verhindern wollte. Bei den Parlamentswahlen erreichte seine Partei jedoch keine Mehrheit in der Nationalversammlung und ist auf die Konservativen und Rechten angewiesen, um seine Politik gegen die starke Linke im Parlament – um Jean-Luc Melanchons France Insoumise und die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) – durchzusetzen. In der Nationalversammlung gab es nun keine sichere Mehrheit für die Anhebung des Rentenalters in der vorgesehenen Form, deshalb brachte Macron den Artikel 49-3 ins Spiel. Beim Misstrauensvotum im Senat wurde jedoch deutlich, dass die sichere rechte Mehrheit dort auch bröckelt.
Was sagt die französische Linke dazu?
Der Vizepräsident des Senats Pierre Laurent von der Kommunistischen Partei (PCF) erklärt, „Die Lage ist nun dauerhaft instabil. Marine Le Pen versucht, aus dem Hinterhalt zu agieren. Die Linke hat eine große Verantwortung, eine Regierungsalternative anzubieten und eine legislative Mehrheit zu erobern, falls es zu einer Auflösung des Parlaments kommen sollte. Die Kommunisten arbeiten aktiv daran. Wir starten gerade eine Kampagne, um die Rentenreform einem Referendum durch eine Volksinitiative zu unterwerfen. Der Protest gegen die Ablehnung Anhebung des Renteneintrittsalters auf 64 ist ein Kristallisationspunkt, durch den eine tiefere soziale Unzufriedenheit zum Ausdruck kommt. Seit September finden zahlreiche Streiks für Lohnerhöhungen und zum Erhalt der Kaufkraft statt. Der Personalmangel verschärft sich in allen öffentlichen Diensten, angefangen bei Krankenhäusern und Schulen. Insgesamt haben sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Seit der Pandemie stellen die Menschen den Sinn und die Bedingungen ihrer Arbeit in Frage. Länger zu arbeiten, wenn es so viel Unsicherheit und Arbeitslosigkeit gibt und vor allem so viele Superprofite, die von den großen Konzernen angehäuft werden, das akzeptiert niemand mehr.“
Jetzt ist Zeit für eine Linke Perspektive aus der Krise
„Die Krise des Kapitalismus und der imperialistischen Politik wird weltweit und in Europa immer deutlicher. In Frankreich versucht Macron, als direkter Vertreter des Kapitals, den Sozialabbau der Agenda 2010 in Meilenstiefeln nachzuholen. In Deutschland betreibt die Ampelkoalition ebenfalls eine Krisenpolitik zur Rettung und Erhöhung der Profite großer Unternehmen und der Rüstungsindustrie. Inflation und die Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage werden auch in nächster Zeit im gesamten Europa weiter zunehmen. Wenn die Arbeiter_innen und Unterdrückten sich zusammentun und europaweit gemeinsam streiken und für ein friedliches Leben und soziale Gerechtigkeit kämpfen, wäre auch ein positiver Weg aus dieser Krise möglich. Dazu müssen in Deutschland aber zuerst die Spaltung und die Unterwerfung eines Teils der Linken unter die destruktive Politik der Neoliberalen überwunden werden“, erklärt Mehmet Yildiz