Die Anwendung der bestehenden Regelungen hätte ausgereicht
Seit dem 19. Juni 2012 gibt es einen öffentlichen Bericht der Innenrevision (IR) der Finanzbehörde zum Todesfall des Pflegekindes Chantal. Er beruht auf der vorliegenden Aktenlage und den Einträgen in dem elektronischen Aktenführungssystem der Sozialbehörde PROJUGA. Der Bericht ist bereits vom 4. April 2012 und es stellt sich die Frage, warum die Erstellung dieser öffentlichen Vorlage, die den Sozialdatenschutz berücksichtigt, so lange gedauert hat.
Warum wurde er erst kurz vor der konstituierenden Sitzung des Sonderausschusses am selben Tag herausgegeben? Das ist vorsichtig gesagt nicht zufriedenstellend. Sollten hier der Opposition Informationen bis zum letzten möglichen Zeitpunkt vorenthalten werden? Denn die Fakten, die die Innenrevision zusammenträgt, und ihr Fazit sind alles andere als vorteilhaft für den Senat und seinen so eilig erlassenen Maßnahmenkatalog. (1) Dass die Fraktion DIE LINKE den Senator in einer Pressemitteilung vom 23. Mai 2012 als „Schnellschuss-Scheele“ bezeichnet hat, hat sich durch den Bericht als angemessen erwiesen.
Regeln wurden nicht eingehalten: Chantal könnte noch leben!
Inhaltlich sehen wir uns durch den Bericht der Innenrevision in den wesentlichen Kritikpunkten bestätigt. Nach den seit 2005 geltenden Bedingungen hätte die Pflegefamilie das Pflegekind Chantal niemals dauerhaft aufnehmen dürfen. So hatte der Pflegevater keinen Lebensbericht eingereicht. (2) Die Eignungsprüfung für die zweite Pflegetochter der Familie im Jahre 2008 hatte lediglich auf im Jahr 2005 eingereichten – unvollständigen – Unterlagen beruht. Eine erneute grundlegende Prüfung hatte nicht stattgefunden. Das bestehende Regelwerk ist vom Jugendamt und auch vom Träger, dem Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen e.V. (VSE) nicht eingehalten worden.(3) In einem Zwischenfazit auf Seite 52 erklärt der Bericht: „Selbst ohne Hinweise Dritter wäre nach Feststellung der IR eine dauerhafte Unterbringung eines Pflegekindes in dieser Pflegefamilie nicht gerechtfertigt.“ Auch habe es Mängel bei der Betreuung der Familie gegeben. Im Bericht der IR ist auf Seite 15 dazu vermerkt: „Ausstattungsmängel sind offensichtlich und müssten deshalb bei Hausbesuchen durch ASD, Amtsvormund oder Freie Träger auffallen.“
Die von Senator Scheele nach dem Tod Chantals zusätzlich eingeführten Kontrollmaßnahmen sind so gesehen aus ein überflüssiger Schnellschuss gewesen. Es hat auch genügend externe und interne Hinweise gegeben, die auf die Problemlage hingewiesen haben. (4) Diese wurden nur nicht beachtet. Auch die Dokumentation erscheint lückenhaft. (5) Die Kriterien für die Eignungsprüfung und das vorhandene Regelwerk werden als ausreichend beschrieben. Daraus ergibt sich für uns, dass es kein Regelungsdefizit, sondern ein Handlungs- und Vollzugsdefizit gibt! Auch die Sozialbehörde scheint dies zu erkennen. Sie wird im Bericht der IR mit folgenden Worten zitiert: „…wird deutlich, dass die zentralen Vorgaben bereits weitestgehend in Fachanweisungen konkretisiert sind. Nunmehr ist vorrangig die Beachtung und Umsetzung im Vollzug sicherzustellen“. Ein Faktor, der dazu beiträgt, ist die Überlastungssituation des ASD. (6) Wir sehen es deshalb als notwendig an, über eine bessere Ausstattung des ASD und der Pflegefamilien nachzudenken, als weitere Kontrollmaßnahmen in diesem Bereich einzuführen. Interessant ist auch der Verweis auf das doppelte Mandat des ASD. (7) Er hat Hilfe und Kontrolle zugleich zu vermitteln. Dies ist aus unserer Sicht ein fachliches Argument, die Aufgabe der Eignungsprüfung nicht an den öffentlichen Jugendhilfeträger/Jugendamt zurückzugeben. Diese Maßnahme sorgt nicht für Rollenklarheit. Der ASD würde seine eigenen Entscheidungen kontrollieren. So etwas geht selten gut!
In diesem Zusammenhang weisen wir den Begriff der „Rekommunalisierung“ als irreführend zurück. Die freien Träger sind Partner der öffentlichen Jugendhilfe und Leistungserbringer. Die Jugendämter haben dabei die Selbständigkeit der freien Jugendhilfe in Zielsetzung und Durchführung sowie in der Gestaltung ihrer Organisationsstruktur zu achten (§ 4 SGB VIII). Über die Fallsteuerung findet im Hilfeplanverfahren die Hilfegestaltung, Überprüfung und Kontrolle statt. Auch die freien Träger werden staatlich kontrolliert. (8) Wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch die vom Senat vorgeschlagen bzw. praktizierten Kontrollmaßnahmen sehr viel Geld kosten. Auch im Bericht der IR auf Seite 36 beziffern die Mitarbeiter/innen vor Ort den Zeitanteil für die Dokumentation und Schreibtischarbeit mit 70%! Die jetzt vorgeschlagenen Maßnahmen haben aber auch den Nachteil, dass sie der Problemlage nicht gerecht werden und viele Pflegefamilien aus der Betreuung drängen werden bzw. abgeschreckt werden, sich zu bewerben. In einer Stellungnahme der im Träger PFIFF organisierten Pflegeeltern wird das schon deutlich. Sie sprechen von einem Generalverdacht gegen die Pflegeeltern und sehen sich einem „gefährlichen Aktionismus“ (9) ausgeliefert. Anstatt das bestehende Hilfesystem in Richtung von mehr Kontrolle und Überwachung auszubauen, bleibt eine fachliche Aufarbeitung mit Hilfe einer Enquete-Kommission wie sie die Fraktion DIE LINKE in ihrem Antrag 20/3754 NEU vorgeschlagen hat, auch nach dem Bericht auf der Tagesordnung.
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(1) siehe Fazit Seite 59 ff. des öffentlichen Berichts der Innenrevision vom 4.4.2012. Dort ist zu lesen, dass es bei „konsequenter Anwendung des seit 2005 vom Senat gestalteten Regelwerks“ nicht zum Pflegschaftsverhältnis hätte kommen dürfen. Die seither eingeleiteten Maßnahmen erfordern nach Ansicht der IR und unter Berücksichtigung dieser Prüfung keine grundsätzlichen Änderungen.“
(2) siehe Seite 26/27, Seite 38 und im Fazit ab Seite 59 ff. Bei einem Lebensbericht handelt es sich um einen erweiterten schriftlichen Lebenslauf, der z.B. auch Brüche in der Biographie berücksichtigt und die entsprechende Weiterentwicklung der Persönlichkeit der zu prüfenden Pflegeltern beschreibt.
(3) siehe z.B. Seite 52
(4) siehe zum Beispiel unter Fazit ab Seite 59 ff.
(5) Anmerkungen hierzu finden sich auf Seite 36 zur Aktenführung oder Seite 37 zu den Arbeitshilfen. Dort heißt es: „Vorliegende Richtlinien/DA/Arbeitshilfen werden nicht eingehalten oder ausreichend genutzt.“
(6) siehe u.a. Seite 35 zur Anzahl der zu bearbeitenden Fälle oder auf Seite 63
(7) siehe Seite 19. Dort ist vom Kontroll- und Wächteramt die Rede, der ASD wird als fallführend bezeichnet.
(8) siehe hierzu These 7 der Resolution der VV der PFIFF Pflegeeltern und die Stellungnahme
(9) siehe These 9 in der Resolution der VV der PFIFF Pflegeeltern