Bestandsaufnahme zum Sonderausschuss Chantal

Dieter Schütz /pixelio.de

Stellungnahme zum Innenrevisions-Bericht II und zum Lagebericht ASD der Uni Koblenz

Zur politischen Aufarbeitung des Todes  des Pflegekindes Chantal hat die Bürgerschaft einen Sonderausschuss gebildet. In den ersten beiden Sitzungen beschäftigte sich der Sonderausschuss vor allem mit der Klärung der Regularien, Sammlung der Materialien und einer internen Auswertung des 1. Berichtes der Innenrevision. (1)

Zur Aufarbeitung im Sonderausschuss hat Senator Scheele vorab die folgenden Rahmenbedingungen vorgegeben:

  1. Überprüfung und Verschärfung der Regeln zur Inpflegenahme von Kindern und eine neue Fachanweisung für die Auswahl von Pflegeeltern.
  2. Einführung einer Jugendhilfeinspektion mit einem externen auditierten Qualitätsmangment
  3. Installation von Jus-It zur Systematisierung und Entlastung der Arbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD)

Inzwischen liegen drei Berichte zur Arbeit des ASD im Sonderausschuss Chantal vor. Dabei handelt sich um zwei Innenrevisionsberichte, die als Auftragsarbeiten durch den Senat bei der Finanzbehörde erstellt wurden und den Bericht der Uni Koblenz, der von der Behörde für Arbeit, Soziales Familie und Integration (BASFI) beauftragt wurde.

Der Revisionsbericht II stellt wie der erste Bericht grobe Verstöße bei der Umsetzung der Betreuung des Pflegekindes Chantal durch den ASD fest und macht durch eine Referenzerhebung in drei weiteren ASD -Abteilungen anhand von Beispielen deutlich, dass der Tod eines Pflegekindes auch in anderen Abteilungen des ASD in Hamburg jederzeit möglich ist. Dabei wurden 20 Fallverläufe beispielhaft untersucht, denen 50 Akten verschiedener Beteiligter der Kinder- und Jugendhilfe zugrunde lagen. Es werden Feststellungen zur Anwendung des Regelwerks in den lokalen ASD-Abteilungen getroffen, die eine „mangelhafte Dienst- und Fachaufsicht“ offenbaren. Die Bewertung der Innenrevision der Finanzbehörde kommt auf Seite 3 zu dem erschreckenden Ergebnis, dass „eine über einen Zeitraum von mehreren Jahren festzustellende mängelbehaftete Anwendung“ des Regelwerks durch den ASD „entweder von der Fach- und Dienstaufsicht nicht erkannt oder – aus welchen Gründen auch immer – aber geduldet wurde.“!  So stelllt der Bericht auf den Seiten fünf bis acht fest, dass es in sieben von 20 untersuchten Fällen „unbegründete Bearbeitungspausen“ von bis zu 20 Monaten gab. In diesen Zeiträumen waren gemäß Untersuchungsbericht der IR nach Aktenlage keine verantwortliche fallführende Fachkraft vorhanden. Die vorgeschriebene Abstimmung mit Kolleginnen fand nur in zehn von 20 Fällen statt, obwohl dies seit dem 1. April 2010 vorgeschrieben ist. Hausbesuche fanden bei den Familien nur in neun von 20 Fällen und Stichprobenkontrollen von Vorgesetzten nur in drei von 50 Fällen statt. In der Hälfte der Fälle wurden vor der Entscheidung für eine Pflegefamilie Unterlagen über deren Wohnverhältnisse, über Suchtkrankheiten und etwaige Führungszeugnisse gar nicht erst angefordert, geschweige denn eingereicht. (2)

Auch zu den Rahmenbedinungen für die Fallbearbeitung durch den ASD werden 12 verschiedene Feststellungen getroffen. Dabei werden Aussagen gemacht, die in diversen Antworten auf Schriftliche Kleine Anfragen schon wiederholt Gegenstand der öffentlichen Diskussion waren.(3) So die hohe Fluktuation bei den Mitarbeiterinnen des ASD. Dabei weist der Bezirk Bergedorf mit seinem Großraumbüro mit 70% ausgeschiedenen Mitarbeiterinnen die höchste Fluktuationsrate auf. Aber auch im Bezirk Eimsbüttel mit 35% oder in Wandsbek mit 25% ist eine hohe Fluktuation festzustellen. Das Gleiche gilt für die hohen Krankenraten bei den Mitarbeiterinnen. Auch hier ist der Bezirk Bergedorf der negative Spitzenreiter. Angegeben wird auch der hohe Aufwand für Verwaltungs- und Dokumentationstätigkeiten. Der von einem Mitarbeiter angegebene Spitzenwert von 70% erscheint der IR sehr hoch, aber selbst ein Wert von 50% wäre schon extrem hoch. Laut Bericht der IR wird als Soll-Arbeitszeitaufteilung in der Fachliteratur 30% für Teamgespräche und kollegiale Beratung, 20% für einzelfallügergreifende organsatorische Aufgaben und 50% für unmitelbare fallbezogene Arbeit inclusive direkte Nutzerinnen und Nutzerkontakte angegeben. Das zeigt, wie weit die Realität der Arbeitsbedingungen beim Hamburger ASD von einem fachlich wünschenswertem Zustand entfernt ist. Nicht erwähnt wir in diesem Zusammenhang, dass die Mitarbeiterinnen des ASD immer wieder auf die desolate Situation hingewiesen haben. In „Überlastungsanzeigen“ haben sie den unerträglichen Zustand angezeigt. Teilweise haben ganze Bezirke kollektiv Überlastungsanzeigen gestellt. In diesem Zusammenhang steht auch die Aussage der Mitarbeiterinnen, dass sie unter den gegebenen Bedingungen keine Kapazitäten haben, „um über einen längeren Zeitraum selbst Hausbesuche zu tätigen.“

Es ist hier nicht möglich alle Untersuchungsergebnisse wiederzugeben. Es bleibt aber festzustellen: Auch dieser Innenrevisionsbericht beschränkt sich auf die formale Kontrolle der gegebenen Regeln. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass es kein Regelungs- , sondern ein Vollzugsdefizit gibt. Als wesentliches Prüfergebnis ist auf Seite 4 des Revisionsbericht II zu lesen: „Obwohl das Rollenverständnis, die Verantwortung sowie der Schutzauftrag des ASD in einer Vielzahl von Regelungen eindeutig normiert sind, wurden neben Bearbeitungsmängeln Kommunikationsverluste an den Schnittstellen offensichtlich. Da sich diese aktenkundig unabhängig von der Fallkonstellation und dem Zeitablauf (und im Einzelfall unabhängig von der örtlichen Zuständigkeit) wiederholen, sind Steuerungsdefizite und die Einbindung verschiedener Beteiligter unter gleichzeitiger Abgabe von Teilen der Kontrollverantwortung als Ursache augenscheinlich.“ Revisionsbericht II  versucht nicht ein Konzept des Handelns des ASD zu überprüfen oder gar neu zu erfinden.

Der Bericht der Uni Koblenz zeichnet einen „Lagebericht“. Mit etwa gleichartigen Fragen wendet sich die Arbeitsgruppe der Uni Koblenz an alle MitarbeiterInnen und wesentliche Gruppen über alle Hierarchien hinweg in den bezirklichen Jugendämtern, beim Familieninterventionteam (FIT) und bei den Frauenhäusern. Es werden 63 Gespräche ausgewertet dargestellt.

Hier können nicht alle aufgeworfenen und erörterten Fragen noch mal zu erwähnt werden, dafür ist dieser “Lagebericht” mit zu vielen Details versehen, es soll stattdessen eine vergleichende Schlussfolgerung für eine wünschenswerte Praxis gezogen werden. (4)

Die Ausgangslage des ASD wird in dem Lagebericht unter anderem so dargestellt:

Es müssen grundsätzlich endliche und damit knappe Ressourcen auf eine prinzipiell unendliche Anzahl von Wünschen, Bedürfnissen und Ansprüchen verteilt werden. Jede Leistungsentscheidung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ASD sei daher eine Entscheidung über die Verteilung nur begrenzt verfügbarer, „knapper“ Güter, diese werden von der Untersuchungsgruppe der Uni Koblenz so bezeichnet; zuerst die Zeit und Aufmerksamkeit der Fachkräfte im ASD selbst, dann die vorhandenen Hilfeangebote und materiellen Ressourcen.

Hier einige Ergebnisse der 73-seitigen Untersuchung:

  • Beeindruckend positiv in dem Bericht der Uni Koblenz ist die Aufarbeitung und Abrechnung mit dem Thema Effizienz und Effektivität am Beispiel Bergedorf. Dort sind die 3 ASD Abteilungen zusammengelegt worden und arbeiten nun in einem gläsernden Großraumbüro.
  • Überraschenderweise wird bei der Auswertung und Darstellung des Lageberichts keine Beantwortung auf die unter 2. an alle gestellten Frage  “Wo sehen Sie Ursachen und Hintergründe für die Todesfälle von Kindern, die von der Jugendhilfe betreut wurden, wie zuletzt Chantal?” gegeben.
  • Der “Lagebericht” macht nicht klar, ob er von den Bedarfen und Rechten der bertoffenen Kinder und Jugendlichen auf Förderung ausgeht, wie sie im SGB VIII beschrieben werden.(5) Die gesetzliche Grundlage allen Handelns des bezirklichen Jugendamts und der dortigen ASD werden nicht ausdrücklich betont, sie dürfen aber nicht in Frage gestellt werden.
  • Im Unterschied zu den Revisionsberichten werden vielfältige Themen, wie „Einarbeitung“ von neuen Mitarbeitern, Personalentwicklung, Überlastung und Fallobergrenzen, ASD als Spielwiese unterschiedlicher politischer Interessen, Schnittstellen und Spezialarbeisfelder, Bürokratisierung, zu viele Projekte und es wird sogar das Thema „was ist ein Fall“ und – andere mehr – angesprochen.
  • Eine Kernbotschaft auch dieses Berichts: Die 342 Mitarbeiterinnen des ASD sind überfordert. Die Zahl der Fälle pro Mitarbeiterin sei in einigen Abteilungen „so extrem hoch, dass die Risikolagen einer nicht ausreichenden Überprüfung einer Kindeswohlgefährdung sehr hoch sind.“ Ein weiterer Fall Chantal ist jederzeit möglich.

Der Innenrevisionsbericht II und der “Lagebericht” der Uni Koblenz betrachten die Arbeit des ASD mit unterschiedlichen Blickwinkeln und ermöglichen damit eine Sicht von OBEN, die das Erfordernis einer verantwortlichen Politikgestaltung diskutierbar machen.
Erstaunlich ist, dass beim Revisionsbericht II diese Themen nicht in den Blick kommen:
–    Die über Jahre abgegebenen individuellen, wie kollektiven Überlastungsanzeigen werden nicht beachtet und bewertet.
–    Die über Jahre nicht vorhandenen Aufgabenbeschreibungen für die Fallzuständigen Fachkräfte finden keine Erwähnung.
Aus beiden Berichten geht hervor: Es gibt kein Regelungsdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit !
Aus Sicht der Fraktion DIE LINKE. müssen die Ergebnisse der Expertenanhörung vom 30.1.2012 bei der weiteren Aufarbeitung im Sonderausschuss Chantal Berücksichtigung finden und zu der Betrachtung durch Innenrevision und Uni Koblenz hinzugenommen werden, wenn ein tragfähiges Konzept entstehen soll.

DIE LINKE. hat sich deshalb für eine Enquete-Kommision in der Hamburgischen Bürgerschaft stark gemacht, weil damit eine umfassende fachlich unabhängige Herangehensweise an eine begründete Neuorganisation der Jugendhilfe möglich gewesen wäre.
Die LINKE fordert vor diesem Hintergrund:

  • Wiederaufnahme der Diskussion um ein Konzept, wie es sich mit der Anhörung am 30.1.2012 für die Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg im Familienausschuss der Bürgerschaft anbahnte.
  • Diskussion um die Wiederherstellung einer einheitlichen Jugendbehörde, die ein gemeinsames Sach- und Aufgabenverständnis entwickeln kann und die auch finanziell der Schulbehörde auf Augenhöhe begegnen kann
  • keine übertriebene Hektik, um das Spezielle (hier die Pflegekindersituation) in der Tätigkeit des ASD vorschnell weiter zu (ver)regeln
  • Ein Konzept für eine Personalentwicklung beim ASD
  • Jugendhilfeplanung
  • ein Überdenken hinsichtlich der Forderung nach einer Jugendamtsinspektion, unter der Fragestellung, welche Beratungsinstitution sich da mal wieder schnell gesund stoßen kann und woher das Geld dafür kommen soll
  • tatsächliche Vereinfachung des Einsatzes der Software Curam (Jus-It) wie in der Teilpersonalversammlung des ASD am 30.8.2012 gefordert
  • Beachtung des Datenschutz
  • Abkehr von ausschließlich betriebswirtschaftlich begründeter Organisation. Das würde auch heißen zu überprüfen, ob die u.A. auch von Schrapper vorgestellte und vertretene  Diagnostik zur handlungsleitenden Arbeit im Jugendamt werden soll.
  • Aufgabe der 3-Teilung des ASD in Eingangs-, Fall- und Netzwerkmanagment. Rückkehr zum INTAKE und zu einer Teambildung, die Stärken und Schwächen der einzelnen KollegInnen als Identität der Gruppe loyal trägt.
  • Fallzahlobergrenzen für den ASD bestimmen, wie es im FIT (25 Fälle pro Vollzeit-äkvivalent) schon lange möglich war. Die 2006 in Harburg empfohlene Zahl von  27,5 Fällen bleibt hier der Maßstab für Hamburg.
  • Methodisch klar werden lassen, daß die Menschen (die der Hilfe bedürfen) als Subjekte ernst genommen werden, im Unterschied zum Bergedorfer Modell, wo Hilfebürftige nur Objekte eines Managments sein können.
  • Rückkehr zu mehr Beratung und Begleitung, im Unterschied zur jetzigen Organisation der ständigen Weiterentwickelung von Kontroll- und Mißtrauenskultur. Das schafft aus Sicht der Fraktion DIE LINKE  auch eine Verringerung der Ausgaben bei den Hilfen zur Erziehung (HzE).
  • Sicherstellen von ausreichender finanzieller Ausstattung von sozialräumlichen Angeboten zu deren Verstetigung. Diese Einrichtung nicht zur eng geführten Zusammenarbeit mit dem ASD zu zwingen, um das eigenständige Profil der sozialräumlichen Einrichtung zu stärken und so eine fachlich begründet Kooperation zwischen den unterschiedlichen methodischen Ansätzen zu entwickeln.
  • Einführung einer Ombudsstelle, wenn es keine „Kundenbefragung“ geben sollte.
  • Den mit Hilfen zur Erziehung Begleiteten eine Stimme ermöglichen und dafür ein Konzept entwickeln.

Peter Meyer / Ronald Prieß / Mehmet Yildiz

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(1)    Zum öffentlichen Innenrevisionsbericht I hat Die LINKE am 9. Juli 2012 eine Stellungnahme veröffentlicht, der ebenfalls auf der Homepage der Fraktion zu finden ist
(2)     siehe auch Hamburger Abendblatt vom 14.08.2012
(3)    Drs. 20/1287 und 20/1380 zum Beispiel geben Auskunft über Fallbelastungen, Fluktuation, Arbeitsbedingungen, Altersstruktur oder Fehlzeiten beim ASD
(4)    siehe auch Hamburger Abendblatt vom 20.07.2012
(5)        hier geht es insbesondere darum, ob die §§ 1 + 2 SGB VIII, aber auch die §§ 79 + 80 SGB VIII wirklich im Blick behalten werden.